Posts Tagged ‘Bildtheorie’

Balken – Kreise – Kurven: Sind Diagramme Bilder?

September 29th, 2009

ergebnis-btw-2009 1

Von Daniel Hornuff

Wenn die Wahllokale schließen, werden sie gezeichnet: Aus Nulllinien fahren bunte Balken, Segmente ordnen sich zu Halbkreisen, Kurven schlängeln sich durch Raster. Keinem konstruktivistischen Werk fieberten jemals auch nur annähernd derart viele Menschen entgegen. Die Übersetzung des Bürgervotums in geometrische Grundformen gehört zu den erstaunlichsten visuellen Phänomenen eines Wahlsonntags.

Dass nahezu alle Internet-, Print- und Fernsehberichterstattungen mittlerweile dazu übergegangen sind, Wahlprognosen und -hochrechnungen nicht auschließlich in Zahlen, sondern mithilfe grafischer Darstellungen zu veröffentlichen, mag kaum verwundern. Schließlich werden so auf einen Blick die wesentlichen Größenverhältnisse evident. Gleichsam jedoch scheinen sich dabei zwei konträre Erwartungen zu vereinen: Immerhin arbeitet das Diagramm – etwa im Gegensatz zum Symbol – mit einer gänzlich abstrakten Formsprache und vermittelt dennoch für Millionen eine konkrete Aussage. Die Abstraktion erreicht damit eine Evidenzkraft, die gemeinhin nur gegenständlichen Darstellungen zuerkannt wird. Wer also als Bildwissenschaftler einen Wahlausgang verfolgt, darf sich guten Gewissens zu grundsätzlichen Fragen veranlasst fühlen: Sind Diagramme eigentlich Bilder?

Tatsächlich wird mit diesem Themenkomplex eine der zentralen bildtheoretischen Konfigurationen berührt. Denn es scheint plausibel, dass Diagramme keinen unmittelbaren Realitätsbezug aufweisen, da sie in keinem Ähnlichkeitsverhältnis zu einer allgemein bekannten Sache stehen. Ein Diagramm besitzt entgegen einer gegenständlichen Darstellung kein Bildobjekt, das auf eine Sache außerhalb des Gezeigten verweisen würde.

Und dennoch beziehen wir uns bei der Betrachtung eines Diagramms auf etwas – wie beispielsweise auf die prozentual erreichten Stimmen einer Partei. Dieser Bezug findet jedoch nicht auf der Grundlage eines Ähnlichkeits-, sondern auf der Basis eines Strukturverhältnisses statt. Es gibt keine visuell nachvollziehbare Nähe zwischen Balken und Wählervotum, wohl aber eine strukturelle Entsprechung.

Der Bildphilosoph Lambert Wiesing formulierte es so: „Bei einem Bild haben wir die Ähnlichkeit sichtbarer Weise, hingegen besteht bei einem Diagramm die Ähnlichkeit ausschließlich in den Beziehungen“. Folglich weisen Bild und Diagramm jeweils unterschiedliche sichtbare Eigenschaften auf. Die Wissenschaft differenziert hier zwischen einem wahrnehmungstheoretischen und einem zeichentheoretischen Gebrauch. Ein Bild verkörpert demnach ein Wahrnehmungsphänomen, da mit ihm etwas zur Sichtbarkeit gelangt, was physisch nicht anwesend ist. Ein Diagramm hingegen ist niemals aus sich selbst heraus als Repräsentant eines Abwesenden zu verstehen. Es benötigt eine allgemein verständliche Zutat, wie etwa die Tönung in den bekannten Parteifarben. Erst damit, wo wäre ein Begriff von Wiesing zu übernehmen, kann ein „Nachbau von Strukturähnlichkeiten“ ermöglicht werden.  

Textquelle: Ornament, Diagramm, Computerbild – Phänomene des Übergangs. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Lambert Wiesing (geführt von Birgit Schneider, Margarete Pratschke und Violeta Sánchez), in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band 3,1: Diagramme und bildtextile Ordnungen, hrsg. von Horst Bredekamp, Birgit Schneider und Gabriele Werner, S. 115-128.

Bildquelle 1: Screenshot des vorläufigen amtlichen Endergebnisses vom 29.9.2009 auf RTLaktuell.de, siehe hier.